St. Paulis Trainer Schmidt: „Die Spieler als Athleten ernst nehmen“

Interview mit dem Trainer des Deutschen Meisters im Blindenfußball

„Wir empfinden eine gewisse Genugtuung“: Wolf Schmidt (r.) und der FC St. Pauli © Carsten Kobow/ DFB-Stiftung Sepp Herberger

Nach drei Finalniederlagen in Folge hat sich der FC St. Pauli im vierten Anlauf die Deutsche Meisterschaft im Blindenfußball gesichert – zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte. Im DFB.de-Interview spricht Trainer Wolf Schmidt über die Genugtuung und die Herausforderungen, die den Blindenfußball künftig erwarten.

DFB.de: Herr Schmidt, wie erleichtert waren Sie, im vierten Anlauf endlich Deutscher Meister geworden zu sein?

Wolf Schmidt: Wir empfinden eine gewisse Genugtuung. In den vergangenen Jahren war es immer so, dass der Meister der Saison sich noch mal im Finale beweisen musste und es in diesen Spielen meistens so war, dass man als Tabellenerster nur verlieren konnte. Vor dem Hintergrund, den Zuschauer*innen ein Event bieten zu wollen, war dieser Modus auch verständlich, aber in diesem Jahr haben wir uns darauf verständigt, im letzten Spiel der Saison den Ersten gegen den Zweiten spielen zu lassen, damit die beiden besten Mannschaften der Saison den Titel im direkten sportlichen Vergleich austragen können. Das war für die Mannschaft sehr wohltuend zu wissen, und dass sie sich belohnen konnte, ist für uns natürlich umso schöner.

DFB.de: Was haben Sie in dieser Saison besser gemacht?

Schmidt: In den vergangenen Jahren war es so, dass die Finalspiele immer mit großer Nervosität verbunden waren. Die Angst, etwas verlieren zu können, haben wir in diesem Jahr bewusst nicht fokussiert. Wir hatten im Vorfeld eine super Teamsitzung, in der wir noch einmal angesprochen haben, dass nicht nur die sehenden Teammitglieder auf die blinden Spieler einwirken. Diese geben den sehenden Mitgliedern Ruhe, was in solch einem Spiel sehr wichtig ist. Dazu kommt, dass Jonathan Tönsing, der bei den letzten beiden Finalspielen gegen MTV Stuttgart nicht dabei sein konnte, in diesem Jahr gezeigt hat, dass er ein echter Unterschiedsspieler ist. In der Vorbereitung auf das Spiel haben wir zudem extra im Käfig am NLZ des FC St. Pauli trainiert, um uns auf den etwas anderen Bodenbelag am Finaltag vorzubereiten. Was das Team beim Spiel selbst zusätzlich motiviert hat, war der St. Pauli-Fanclub Blaubären Bonn. Diese Anfeuerungen haben der Mannschaft sehr gut gefallen, weil sie diese typische Fußball-Atmosphäre geschaffen haben – so was beflügelt.

Schmidt (r.): „Wir müssen den Zugang zum Blindenfußball niederschwellig gestalten“ © Getty Images

DFB.de: Wie zufrieden sind Sie mit der Entwicklung des Blindenfußballs? Einerseits im Hinblick auf die Zuschauerresonanz, aber auch mit Blick auf das Leistungsniveau.

Schmidt: Es gibt nicht das eine Erfolgsrezept, um viele Zuschauer*innen anzuziehen. In Bonn stimmten die Rahmenbedingungen, es war eine Atmosphäre, die extrem viele Leute dazu animiert hat, stehen zu bleiben und die Spiele zu verfolgen. Was das Niveau angeht, haben wir mit Stuttgart, Marburg und uns drei Teams auf internationalem Niveau. Ein Fortschritt ist aber auch, dass die Teams, die in dieser Saison zum ersten Mal an der Blindenfußball-Bundesliga teilgenommen haben, sich trotz teilweise hoher Niederlagen nicht haben demotivieren lassen und zu allen Spielen angereist sind, was die Grundlage eines soliden Wettbewerbs ist. Das ist eine Momentaufnahme, aber ich hoffe, dass es so weitergeht. Wir müssen den Zugang zum Blindenfußball niederschwellig erleichtern und unsere Erfahrungen, was beispielsweise die Trainingsgestaltung angeht, untereinander austauschen. Vielleicht sogar so genannte Best-Practice-Modelle finden und als Leitmodelle herausarbeiten, das könnte die Entwicklung des Blindenfußballs nachhaltig fördern.

DFB.de: Wie trainiert man als sehender Trainer blinde Spieler?

Schmidt: Ich profitiere dabei sehr von meinen Erfahrungen als Jugendtrainer. Kinder wollen spielen, und das ist bei blinden Spielern nicht anders. Wenn ich einem Spieler sage, dass er erst mal drei Jahre trainieren muss, wird er im nächsten Jahr nicht mehr da sein. Ich sage immer: „Der Ball ist King.“ Die Ballbehandlung ist das Wichtigste – egal, ob im sehenden oder im Blindenfußball, und dafür muss ich als Trainer den Spielern das nötige Setting geben. Was im Blindenfußball dann dazukommt, ist, dass ich die Räume akustisch kennzeichnen muss, um den Spielern Orientierung zu bieten. Man braucht also im Prinzip eine Pari-Pari-Situation aus sehenden und blinden Menschen, um den Spielern die nötige räumliche Sicherheit in der Trainingsumgebung zu geben.

DFB.de: Dribbellastiges Spiel ist im Blindenfußball üblich, Ihre Mannschaft hingegen schafft es auch zu passen. Wie gelingt es, eine Mannschaft auf dieses Niveau zu bringen?

Schmidt: Diese Entwicklung zu vollziehen, ist eine Frage der Schwerpunkte, Dosierung, Settings und der Geduld bei der Entwicklung, wie im sehenden Fußball auch. Bei uns steht das Ballspiel absolut im Vordergrund. Da nicht alle Spieler*innen die gleichen körperlichen Voraussetzungen haben, um sich im „dribbelnden“ Eins-gegen-Eins erfolgreich durchsetzen zu können, bieten sich die freien Räume zur Spielentwicklung an, denn diese sind immer vorhanden. Für Einsteiger*innen bieten sich Wettspielformen mit vergrößerten Spielräumen pro Person an, wie im Zwei-gegen-Zwei auf 30 mal 20 Metern und für etwas weiter fortgeschrittene Spieler*innen im Drei-gegen-Drei auf offizieller Spielfeldgröße 40 mal 20 Metern. Diese Methode, im Anfänger*innenbereich mit vergrößerten Wettspielräumen zu arbeiten, um schließlich im offiziellen Vier-gegen-Vier zu spielen, hat sich als gut geeignet erwiesen, um ballsichere Spieler*innen auszubilden.

DFB.de: Seit 2013 stellen Sie mit dem FC St. Pauli die jüngste Mannschaft der Liga. Jonathan Tönsing ist mit 22 Jahren bereits einer der Topathleten des Sports. Ist die Jugendarbeit Ihr Erfolgsrezept?

Schmidt: Mit Jonathan hatte ich vor vielen Jahren ein Aha-Erlebnis, als ich ihn gefragt habe, ob er für ein Fotoshooting Lust hätte, gemeinsam mit Paul Ruge und mir ein Blindenfußball-Training zu absolvieren. Er hatte davor schon mal ein Training absolviert, war seinerzeit aber mit der Begründung weggeschickt worden, dass er noch zu klein sei. Als ich mit den beiden dann besagtes Training gemacht habe, waren sie danach so angefixt, dass sie unbedingt weitermachen wollten. Das hat mir gezeigt, wie wertvoll es sein kann, in Kleingruppen zu trainieren. Ähnlich ist es in unserer Inklusionsgruppe, in der Spieler mit ganz verschiedenen Beeinträchtigungen zusammenspielen. Viele Jugendliche dieser Gruppe sind inzwischen so motiviert, dass sie jetzt in den Leistungssport einsteigen wollen, und das treibt uns an.

DFB.de: RLP-Ministerpräsidentin Malu Dreyer sagte am Rande eines Spieltages, die Sportler zeigten, dass sie viel mehr seien als ihre Behinderung. Welche Rolle spielt der Inklusionsgedanke in Ihrem Sport?

Schmidt: Das ist bei uns ein absolut unspürbarer Nebeneffekt. Der Grad der Beeinträchtigung ist bei uns völlig egal, sie müssen für diesen Sport gewisse Anforderungen erfüllen, und nur das zählt. Ich muss die Menschen als Athleten ernstnehmen. Da müssen die sehenden Guides und Torhüter genauso ihre Leistungen bringen wie die blinden Spieler. Von den Spielern höre ich immer wieder, dass sie es schön finden, sich in diesem Sport frei bewegen zu können, ohne Blindenstock oder sonstige Hilfen. Das, gepaart mit dem Leistungsgedanken, lässt die Behinderung für den Moment vergessen. Das gemeinsame Ziel steht im Vordergrund, das Empowerment ist ein netter Nebeneffekt.

DFB.de: Was wünschen Sie sich für Ihren Sport in den kommenden Jahren?

Schmidt: Erst einmal, dass er als genauso normal angesehen wir wie sehende Sportarten. Und dann wünsche ich mir, dass der Fokus nicht nur auf den Eventspieltagen liegt, sondern ebenso für die Vereinsspieltage Verantwortung übernommen wird, damit wir auch Räume für diejenigen schaffen, die sich auf der großen Bühne nicht wohl fühlen. Dann haben wir die Chance, Blindenfußball ganzheitlich zu entwickeln. Vom Breitensport bis zum Spitzenwettkampfniveau, auch wenn blinde Menschen eine vergleichsweise kleine Gruppe in unserer Gesellschaft sind. Alle Menschen, unabhängig von Beeinträchtigungen, haben das Recht auf vielfältige, freudige und bewegte Lebensgestaltung. Blindenfußball ist dabei ein wichtiger Baustein. [kp/dfb.de]

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