Zwischen Anstoß und anstößig – Wohin katar-pultiert uns die WM? Über die Chancen, Aussichten und Risiken wurde am Montagabend, 07.11.22, beim „4. LOTTO-Talk“ des Hamburger Fußball-Verbandes im Hotel „Le Meridien“ heiß debattiert und diskutiert. Durch die illustre Runde führten Birgit Hasselbusch (Sportkommentatorin, Buchautorin) und Carsten Byernetzki (Pressesprecher Hamburger Fußball-Verband).
Es sei „Wahnsinn“, dass die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar stattfinden würde, sagte Gerd Gottlob (NDR-Sportchef und Fußball-Kommentator). Kai Schiller, Sport-Chefreporter beim Hamburger Abendblatt, ging sogar noch ein Stück weiter: „Es ist eine Schande!“ Und dennoch betonte Gottlob: „Für mich ist das ein Job.“ Er werde acht Spiele bei der WM begleiten und möchte diese „möglichst gut kommentieren“, so sein Vorhaben. „Der Fokus ist Fußball. Aber alles, was links und rechts passiert, nehme ich natürlich auch auf und wahr.“ Er werde „viele Gespräche führen, um einen Gesamtblick zu haben“, gehe aber auch gleichzeitig „mit Neugier da hin“ und werde „gut vorbereitet sein auf all das, was passieren könnte“.
Der 4. LOTTO-Talk im Video:
„Es wird keine Alibi-Berichterstattung geben“
Die WM in dem Emirat steht wegen Menschenrechtsverstößen und des Umgangs mit Arbeiterinnen und Arbeitern aus anderen Ländern schon lange in der Kritik. Offene Berichterstattung? „Das haben wir auf jeden Fall vor! Wir werden so berichten, wie es angemessen ist“, entgegnete der NDR-Sportchef – und verwies bereits auf einige ausgestrahlte Dokumentationen zum Thema. „Es wird keine Alibi-Berichterstattung geben, sondern das, was unsere Aufgabe ist.“ Wenngleich man vermutlich „die ganze Wahrheit zur Vergabe der WM nie herausbekommen“ werde. Wenn er FIFA-Präsident Gianni Infantino bei öffentlichen Auftritten sehe, „stellen sich mir ein paar Nackenhaare auf“, wünschte sich Gottlob auch von den Verbänden „mehr Tapferkeit“. So tapfer, wie er und sein Sender sein wollen, „auch darüber zu berichten, was sich verbessert hat“.
Eine Grenze habe er für sich „noch nicht gefunden“, würde aber „auch nichts ausschließen“, so Gottlob in Bezug auf die Gescheh- und Vorkommnisse in Katar. „Ich fühle mich total frei und werde sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“ Fakt sei aber auch, dass „das nicht die WM“ sei, „die dafür geeignet ist, einen Boom auszulösen“. Sein Anspruch: „Einen möglichst guten Job zu machen und in der Berichterstattung alle Aspekte zu sehen und zu beleuchten, auch die Menschen aus dem Land zu sprechen und zu hören.“
„Unsere Debatte ist sehr von Wut und Zorn geprägt“
Katar habe „auf jeden Fall den Fußball verändert“, befand DFB-Mediendirektor Steffen Simon. „Am Ende ist es trotzdem ein Sportereignis – und ich finde, es ist für all diejenigen, die den Fußball lieben, und diejenigen, die dort hinfahren, um Deutschland zu repräsentieren, das Recht, sich darauf zu freuen, und das auch mit dem sportlichen Ziel zu tun, mit dem man zu solch einer Veranstaltung fährt.“ Er sehe das Land „super kritisch“, machte Simon keinen Hehl daraus – und konstatierte dennoch: „Mir fehlt ein differenzierter Blick darauf. Unsere Debatte ist sehr von Wut und Zorn geprägt. Dadurch verlieren wir die Vielzahl an Blickwinkeln.“ Da er selbst Journalist ist, sei es „wichtig, mit so vielen Blickwinkeln wie möglich auf das Phänomen zu schauen“, sieht er „eine Debatte, wo es nicht mehr nur um Fakten geht“.
In unseren Nachbarländern werden die Diskussionen ebenfalls kritisch, aber nicht mit der gleichen Schärfe wie in Deutschland geführt. Und wie sehen die Vorbereitungen für Trainer sowie Spieler beim DFB aus? Wird es spezielle Schulungen geben, was man sagen darf und was eher nicht? „Die Vorbereitung ist beim DFB eine einzigartige“, gestand Simon, da man auch „eine gesellschaftliche Verantwortung“ habe. Aber: „Wir geben keine Redewendungen vor, sondern wollen eine Meinungs- und Willensbildung auf Grundlage von Informationen“. Spielern und Offiziellen des DFB-Teams wurde eine dicke Informationsmappe mit Fakten zur Geschichte Katars, den wirtschaftlichen Verhältnissen, aber auch politischen Themen ausgehändigt, um damit auch „so viele Sichtweisen wie nötig zu ermöglichen“.
„Eine Auszeichnung, auf die ich mich freue“
Christina Rann, Stadionsprecherin des HSV und WM-Moderatorin für „Magenta-TV“, hat gerade erst den Zorn einiger HSV-Fans abbekommen, da sie die WM begleiten und Spiele kommentieren werde. Allerdings nicht aus Katar, sondern aus München. „Ich mache da meinen Job“, bekräftigte Rann – und führte aus: „Es gibt nicht viele Kolleginnen, die Fußballspiele auf diesem Niveau kommentieren dürfen. Das ist eine Auszeichnung, auf die ich mich freue“, richtet sich die Vorfreude ausschließlich auf den „rollenden Ball“ und die Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen. Dazu gehört auch der Hamburger Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich, der für „Magenta-TV“ als Schiri-Experte tätig sein wird. „Ich bin sehr froh, ihn als Experten dabei zu haben. Er ist eine coole Type. Jemand, der auch was zu sagen hat.“
Zum „Shitstorm“, den Rann erleiden musste, sagte sie: „Ich bin weiterhin gesprächsbereit und froh, dass wir nicht schweigen. Denn das wäre das Schlimmste, was wir tun können. Es ist gut, dass Fußballfans auch diskutieren. Und wir sind uns alle einig, dass viele Fragen offen sind.“ So viele Fragen, dass man noch immer die gleichen Debatten, wie vor einem Jahr führe. Aber: „Wir haben die Chance, zu zeigen, wofür wir stehen. Das ist positiv.“ Und dennoch bleiben einige Fragen offen: „Schaffen wir es, Symbolik zu schaffen und auch darüber hinwegzukommen? Inwieweit darf ich mitgehen und mich als Fan an einem Spiel erfreuen?“ Deutliche Worte fand Rann zum Thema „Gekaufte Fans“. Vorwürfe, mit denen sich das Organisationskomitee des Gastgebers ebenfalls konfrontieren lassen muss. „Das nimmt mir die Freude und das letzte bisschen Naivität“, sprach Rann ganz offen von einem „Skandal“.
„Habe das Gefühl, viele decken jetzt ihr Gewissen“
In eine ähnliche Kerbe schlug Kai Schiller vom „Hamburger Abendblatt“ – und erwiderte auf die Frage, ob die Vorfreude auf die WM schon groß sei: „Jein!“ Schiller war schon bei mehreren Turnieren dabei und „merke, dass es diesmal ganz anders ist“. Bereits bei der WM 2014, als sich Deutschland zum Weltmeister krönte, standen „in Brasilien viele politische Themen im Fokus“, erinnerte Schiller. „Aber das hat jetzt nochmal eine ganz andere Qualität!“ Er habe schon im Vorfeld der Fußball-WM eine „aus journalistischer Sicht tolle Reise“ ins Land des Gastgebers unternommen, wurde dabei „geflutet von Informationen“ und auch schon von „vielen tollen Reportagen“. Das Positive: „Katar ist jetzt auf der Landkarte“. Er hofft, dass die Aufmerksamkeit weiter steigt. Aber: „Man darf nicht vergessen, was es an positiven Entwicklungen gegeben hat. In Deutschland haben wir es verpasst, rechtzeitig eine normale Debatte zu führen. Ich habe das Gefühl, viele decken jetzt ihr Gewissen. Seit einem Jahr ist Katar nun im Fokus. Damals wollte niemand was dazu sagen. Und jetzt plötzlich springt man auf den Zug der Kritik auf. Das ist das Grundsatzproblem, dass man nicht schon vor zehn Jahren eine Meinung dazu gefunden hat.“
Das macht es aus Journalisten-Sicht schwer, sich auf das Wesentliche zu fokussieren: Fußball. „Der Spagat wird nicht einfach sein, ob jetzt Hummels oder Süle spielt und alle erwarten, dass man mal wieder die große Menschenrechts-Diskussion entfacht.“ Da er bereits einen Rückflug buchen musste, fiel die Wahl auf: „Nach dem Viertelfinale.“ Das sei auch seine ganz persönliche sportliche Erwartungshaltung. „Alles, was darüber hinaus geht, wäre schon ziemlich stark. Ich habe das Gefühl, dass die Europäer nicht die Favoriten sein werden.“ Auch aus „Herzensgründen“ legte sich Schiller auf Brasilien als Weltmeister fest.
„Es gibt klare Ziele – und die sind auf den 18. Dezember ausgelegt“
Und damit wären wir dann auch bei der sportlichen Debatte. Am Donnerstag wird Bundestrainer Hansi Flick seinen Kader für das große Turnier bekanntgeben. Die größte Diskussion: Wer soll als Stürmer mitfahren? Ein Name, der sowohl bei Schiller als auch bei Rann fiel: Youssoufa Moukoko. „Mit Füllkrug als Bremer kann ich nicht so viel anfangen“, scherzte HSV-Reporter Schiller, der sich stattdessen mit Kai Havertz als Sturmspitze „gut anfreunden“ könne. Und natürlich auch mit einem Torjäger der „Rothosen“. „Es wurde gar nicht nach Robert Glatzel gefragt“, witzelte er. Gerd Gottlob hätte derweil gerne „einen richtigen Stürmer“ dabei. Sein Wunsch? „Eine WM, die etwas Überraschendes hervorbringt und eine Nation aufsteigen sieht.“
Aus deutscher Sicht „liest sich die Gruppe machbar“, meinte Rann. Und wie sieht man das beim DFB? Mediendirektor Steffen Simon: „Sicherlich sind die Weltmeisterschaft 2018 und die Europameisterschaft 2021 noch in den Knochen und eine andere Demut vorhanden.“ Nichtsdestotrotz habe er seinen Rückflug für den 19. Dezember gebucht. Das wäre der Tag nach dem Finale. Getreu dem Motto: „Zurück in die Weltspitze“, was Oliver Bierhoff nach der WM 2018 ausgerufen hat. „Es gibt klare Ziele – und die sind auf den 18. Dezember ausgelegt. Da versteht Hansi Flick auch überhaupt keinen Spaß. Wenn wir da nicht hinfahren und Weltmeister werden wollen, dann müssen wir da gar nicht erst hin“, verriet Simon, der grundsätzlich davon ausgeht, dass das Turnier „sportlich auf deutlich höherem Niveau stattfinden wird, weil die Spieler noch nicht so viele Spiele in den Knochen haben, wie bei einer Sommer-WM“.
„Bin Optimist: Diesmal schaffen wir die Vorrunde“
Dennoch wäre es „ziemlich merkwürdig, wenn diese WM einen Boom auslösen würde“, beteuerte Schiller. Während Gottlob der Meinung war: „Es wird sehr abhängig davon sein, wie weit die deutsche Mannschaft kommt und ob sie begeistern kann. Wenn ja, werden die Leute die WM annehmen und sich auch darauf freuen.“ Beim DFB hofft man hingegen, „dass die heimische EM 2024 einen Boom bringen wird“, erklärte Simon. „Wir haben anderthalb Jahre später die Chance, zu zeigen, wie wir uns so eine Veranstaltung vorstellen und etwas Positives zu gestalten.“ Seine Einschätzung zum Abschneiden der DFB-Elf durfte aber natürlich auch nicht fehlen: „Ich bin Optimist. Diesmal schaffen wir die Vorrunde.“
Die abschließenden Worte gehörten aber den Damen in der Runde. Noch bevor Birgit Hasselbusch ein kleines Resümee des „4. LOTTO-Talks“ zog, brachte es Rann auf den Punkt: „Wir wünschen uns Veränderungen. Aber irgendwann muss man auch sportlich werden. Die Frage nach dem ‚Warum‘ werden wir nicht abschließend klären können. Aber wir müssen uns weiter mit dem Thema beschäftigen und die Frage stellen.“ Schöne Schlussworte!
Dennis Kormanjos