„SPORT IST VON HERAUSRAGENDER BEDEUTUNG“

Kinderärztin Kerstin Holze: "Sport im Verein zu treiben, ist mehr, als nur das Herz-Kreislauf-System zu trainieren." [Foto: DTB/ picture alliance/imago/Collage FUSSBALL.DE]

Kerstin Holze ist Kinderärztin und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung. Im FUSSBALL.DE-Interview erklärt die 41-Jährige, warum ein weiteres Sportverbot für Kinder und Jugendliche verheerende Folgen haben könnte und was sie stattdessen von der Politik konkret fordert.
FUSSBALL.DE: Frau Holze, laut einer aktuellen DFB-Umfrage unter mehr als 6200 Personen aus dem Amateurfußball befürchten knapp 91 Prozent, dass Kinder und Jugendliche bei einem neuerlichen Lockdown die größten Verlierer wären. Stimmen Sie zu?

Kerstin Holze: Leider ja. Ich sehe das auch so. Ich finde, dass das Leben der Kinder und Jugendlichen schon vor einem möglichen weiteren Lockdown bereits sehr eingeschränkt ist. In vielen Bereichen haben wir die 2G+ Regelung. Kinder sind zwar mit Geimpften und Genesenen zum Teil gleichgestellt, müssen aber dennoch oft getestet werden, um ihr Recht auf Musik oder Sport durchsetzen zu können. Bei uns im Verein hatten wir aktuell die Diskussion, wie wir mit der Problematik umgehen sollen. Es kam der Vorschlag, dass die Tests direkt vor dem Training durchgeführt werden. Aber das wälzt letztlich nur die Verantwortung auf unsere ehrenamtlichen Übungsleiterinnen und Übungsleiter ab. Diese sind eigentlich dafür da, ein qualifiziertes Sportangebot zu organisieren und nicht, um Corona-Tests durchzuführen. Hinzu kommt, dass dadurch Zeit verloren geht, die eigentlich für das Bewegungsangebot vorgesehen ist. Die Hallen- und Platzzeiten sind sowieso schon sehr knapp bemessen. Deshalb sehe ich nicht, dass das funktionieren kann. 

„Kinder trifft jeder Lockdown doppelt hart, weil sie sich in der Entwicklung befinden. Was sie jetzt verpassen, können sie nicht mehr einfach aufholen“

Was wäre Ihrer Meinung nach die Lösung?

Holze: Das Einfachste aus meiner Sicht ist, dass wir alle Kinder und Jugendlichen verbindlich jeden Tag in der Schule testen. Damit ist jedes Kind, das nachweisen kann, dass es in die Schule geht, täglich getestet und kann am Leben teilnehmen. Das bindet natürlich etwas Kapazitäten in der Schule, aber das ist meiner Meinung nach dennoch der beste Weg.
Warum leiden Kinder und Jugendliche aus Ihrer Sicht ganz besonders unter einem Sportverbot? 
Holze: Sport und Bewegung sind für uns alle wichtig, aber für Kinder und Jugendliche sind sie von herausragender Bedeutung. Wenn wir wollen, dass Kinder und Jugendliche gesund und ganzheitlich aufwachsen, dann ist Sport und Bewegung unverzichtbar. Es ist viel mehr als nur ein Zeitvertreib. Sport und Bewegung nehmen eine ganz wichtige Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung ein, aber auch bei der Fähigkeit, auf unvorhergesehene Ereignisse angemessen und situativ reagieren zu können. Und auch für die kognitiven und schulischen Leistungen sind Sport und Bewegung entscheidend. Ich will es mal ganz verkürzt sagen: Komplexe Bewegungsabläufe wie eine Rolle rückwärts sind die Grundlage für komplexe Denkvorgänge wie das Rechnen. Dass Sport und Bewegung entscheidend sind bei der Bekämpfung von Übergewicht, ist ja hinlänglich bekannt, aber sie tragen beispielsweise auch dazu bei, das Risiko für ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) zu vermindern.
Welche körperlichen Folgen kann Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen auslösen? 

Holze: Es gibt unmittelbare Folgen wie mögliche Haltungsschäden oder den suboptimalen Aufbau von Muskeln und Knochen. Hinzu kommt das Thema Adipositas, das ich eben bereits angesprochen habe. Die Kinder, die erst einmal übergewichtig sind, bekommen diese Situation nur ganz schwer wieder gelöst. Hier ist Prävention deshalb das A und O. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. 

Und die psychologischen Folgen von Bewegungsmangel?
Holze: Sport im Verein zu treiben, ist mehr, als nur das Herz-Kreislauf-System zu trainieren. Für Kinder ist Mannschaftstraining ein wichtiges Medium, um in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen zu schauen, wo sie stehen. Wie verhalten sie sich im Konfliktfall? Wie können sie Streitigkeiten lösen? Was bedeutet Fairness? Mannschaftssport ist ein sozialer Lebens- und Erfahrungsraum. Kinder sind durch die Pandemie sowieso schon stark belastet. Da dürfen wir ihnen den Sport in der Gruppe nicht auch noch wegnehmen. 
Häufig entgegnen Befürworter*innen der strengen Maßnahmen, dass Kinder und Jugendliche weiterhin Sport machen könnten. Nur eben nicht in Mannschaftssportarten. Werden solche Aussagen der Problematik gerecht? 
Holze: Nein, auf keinen Fall. Eine Fahrradtour mit den Eltern im Wald ist wichtig. Aber sie kann den Mannschaftssport nicht ersetzen, der möglicherweise dem Lockdown zum Opfer fällt. Wir Eltern sind keine ausgebildeten Übungsleiter, wir sind nicht gleichaltrig, wir sind keine und keiner, in dem sie sich spiegeln können. Der Mannschaftssport ist nicht das Problem in dieser Pandemie. Sicherheit steht in dieser Phase über allem, das ist ganz klar. Aber die Verantwortlichen im Sport haben sich Gedanken gemacht, wie er sicher ausgeübt werden kann. Es gibt großartige Ideen, wie zum Beispiel die Gruppen zu verkleinern. Und übrigens können ganz viele Mannschaftssportarten auch im Winter draußen durchgeführt werden. 
Warum ist besonders der Mannschaftssport für Kinder und Jugendliche so wertvoll? 
Holze: Weil sie dann die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen haben. Sie spielen miteinander, sie lernen voneinander. Das ist durch nichts zu ersetzen. Sie bekommen viele Fragen beantwortet: Wie ist meine Stellung in der Gruppe? Was bewirkt mein Handeln für die Gruppe? Die Antworten darauf bekommen sie nicht, wenn sie mit ihren Eltern durch den Wald radeln.  

Ingo Froböse fürchtet bei einem neuerlichen Sport-Lockdown gravierende Langzeitfolgen. Teilen Sie diese Sorgen?
Holze: Auf jeden Fall. Kinder haben in ihrer Entwicklung sensible Phasen, in denen der Körper sehr empfindlich ist für bestimmte Trainingserfahrungen und Bewegungsanreize. Das Grundschulalter nennt man zum Beispiel auch das goldene Lernalter für koordinative Fähigkeiten. Man muss sich bewusst sein, dass sich dieses goldene Lernalter nicht verschieben lässt. Das findet jetzt statt, Pandemie hin oder her. Und wenn wir Kinder der ersten bis vierten Klasse nun in den zweiten Winter in Folge ohne qualifizierte Bewegungs- und Sportangebote in Schulen und Vereinen schicken, dann nehmen wir ihnen sehenden Auges die Hälfte ihres goldenen Lernalters für koordinative Fähigkeiten weg. Das ist unverantwortlich, denn es lässt sich nicht mehr einfach aufholen. Das ist dann weg. 
Welche Langzeitfolgen sind zu befürchten? 
Holze: Man kann davon ausgehen, dass bewegte Kinder eine große Chance haben, auch bewegte Erwachsene zu werden. Wir legen jetzt den Grundstein für ein psychisch und physisch gesundes Leben. Kinder trifft jeder Lockdown doppelt hart, weil sie sich in der Entwicklung befinden. Was sie jetzt verpassen, können sie nicht mehr einfach aufholen. Die Pandemie wird nicht in drei Wochen zu Ende sein. Ich fürchte, dass sie uns noch mindestens eineinhalb Jahre mit immer neuen Virusvarianten beschäftigen wird. Es kommt also womöglich noch ein dritter Corona-Winter ohne die nötige Bewegung, wenn das bisherige Konzept weiterverfolgt werden sollte. Dann wird einem größeren Teil der Kinder die motorische Grundlagenausbildung fehlen. Ich denke zum Beispiel ans Kinderturnen, an das Üben, das Erleben, das Mitmachen. Es wird eine Lücke entstehen, die nicht mehr zu füllen sein wird. Das sollte man nicht unterschätzen. 

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Holze: Wir stimulieren jetzt durch Bewegungsanreize bei Kindern und Jugendlichen den Knochenaufbau. Das führt im jungen Erwachsenenalter zu einem Maximum der Knochenmasse. Davon zehren wir unser Leben lang. Je weniger Knochenmasse durch fehlende Bewegungsanreize aufgebaut wird, desto früher stellen wir ein Risiko für Osteoporose fest. 
Können Sie erläutern, was Sie von der Politik konkret fordern? 
Holze: Sport ist nicht das Problem, Sport ist ein Teil der Problemlösung. Das muss der Ansatz sein. Stattdessen wird der Schulsport dicht gemacht, weil er als zu gefährlich eingestuft wird. Das ist meiner Meinung nach der völlig falsche Weg. Richtig wäre es, wenn die Politikerinnen und Politiker mit dem organisierten Sport zusammenarbeiten würden. Ich habe erlebt, wie Kinder mit großer Freude einen Maskenparcours in der Halle gemacht haben. Man kann auch mit Maske Sport treiben. Dann kann man vielleicht nicht die maximale Ausdauerfähigkeit trainieren. Aber man kann Bewegungserfahrungen sammeln. Man lernt Teamspirit kennen. Das geht alles auch mit Maske, auch wenn es sicher nicht optimal ist. Oft wird argumentiert, dass das Ansteckungsrisiko in der Umkleidekabine zu groß ist. Dann trennt man eben Jungs und Mädchen. Die Jungs teilen sich auf die verschiedenen Umkleidekabinen auf, die Mädchen ziehen sich in der Turnhalle um und alles ist entzerrt. Auch das ist nicht perfekt, aber besser als alles zu verbieten. 
Also ist auch Sport in der Halle möglich? 
Holze: Nicht mit 25 Kindern in einer kleinen Halle ohne richtige Belüftung und möglicherweise dicht gedrängt. Soweit würde ich nicht gehen, davon würde ich abraten. Aber es gibt auch hier natürlich Lösungen. Man muss anders denken. Man kann vielleicht Klassen oder Mannschaften teilen. Dann haben alle womöglich etwas weniger Zeit für Sport, aber er fällt nicht komplett flach. Warum tauschen Politik, organisierter Sport und Schulen ihre Erfahrungen nicht aus? Davon profitieren am Ende alle – vor allem die Kinder und Jugendlichen. Und darum geht es doch!
Autor/-in: Martin Schwartz /FUSSBALL.DE

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