„Das ist hier kein Stadtteilguerillakrieg“

Drei Säulen

Hamburg „Ich habe ein kurvenreiches Leben hinter mir“, sagt Wilfried Wilkens. Nach einer Ausbildung zum Polizeibeamten studierte er Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Politikwissenschaften, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. „Zum Thema ,Gewalt‘ kam ich durch meine Tätigkeit bei der Drogenhilfe“, sagt Wilkens (59), der sich zudem zum Coolness-, Antigewalt-, Deeskalations-, und Demokratietrainer fortbildete. Wilkens ist selbstständig, eines seiner Arbeitsfelder ist die Entwicklung und Durchführung von Antigewalt- und Kompetenztrainings in Haftanstalten – als Mitglied des neunköpfigen Gewaltpräventionsteams des Hamburger Fußball-Verbands (seit 2005).

Herr Wilkens, Sie engagieren sich ehrenamtlich im Gewaltpräventionsteam des Hamburger Fußball-Verbands. Wird auf Hamburgs Amateurfußballplätzen alles immer schlimmer?
Wilfried Wilkens: Was gefühlt zugenommen hat, ist die Intensität der Fälle. Es bleibt oft nicht mehr beim Schubser oder beim Anspucken, was ja schon schlimm genug ist. Stattdessen werden die Fäuste eingesetzt. Oder gar ein am Boden liegender Spieler oder Schiedsrichter getreten. Belastbare Messungen existieren aber nur für die Anzahl der Spielabbrüche. Für Hamburg kann ich daher nicht bestätigen, dass alles immer schlimmer wird. In der vergangenen Saison wurden von 65.000 Amateurfußballspielen nur 48 abgebrochen. So wenige wie lange nicht mehr. 2013 und 2017 gab es Ausschläge nach oben, ansonsten ist die Tendenz der Gewalttaten auf dem Fußballplatz fallend. Sie liegt heute 20 Prozent niedriger als zu Beginn der Messungen vor zwölf Jahren. Aus unserer Sicht ist das ein Erfolg unserer Arbeit.

Wie sieht diese Arbeit aus?
Sie beruht auf drei Säulen: dem Fit-for-Fairplay-Coaching, den Coolness-Tagen und dem Spielabbruch-Coaching.

Gehen wir die Säulen einmal durch.
Das Fit-for-Fairplay-Coaching ist rein präventiv. Vereine können es in Anspruch nehmen, wenn sie mögen. Es ist eine Trainingseinheit mit Schwerpunkt Teambuilding, bei der Mannschaft und Trainer für den Umgang mit Stresssituationen auf dem Platz geschult werden. Zu den Coolness-Tagen kommen Spieler, die aufgrund einer Gewalttat in einem Spiel vom Sportgericht gesperrt worden sind. Der Tag dauert acht Stunden, besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Bewältigen sie ihn erfolgreich, wofür eine gewisse Punktzahl notwendig ist, wird ein Teil ihrer Sperre zur Bewährung ausgesetzt.

Bleibt das Spielabbruch-Coaching.
Hier können Teams mit uns den Spielabbruch nachbereiten. Wir erarbeiten mit ihnen Lösungsstrategien, wie es anders laufen könnte. Zudem schauen wir uns eine oder mehrere der nächsten Partien von ihnen an und geben ein Feedback, damit Mannschaft und Trainer die Strategien umsetzen können. Wir besuchen auch die Schiedsrichter. Hören uns ihre Sicht der Dinge an, geben Tipps.

Bei den Coolness-Tagen haben Sie es mit Spielern zu tun, die Gewalt auf dem Fußballplatz ausgeübt haben. Die kriegen Sie in acht Stunden wieder in die Spur?
So einfach ist es nicht. Alle Statistiken zeigen allerdings: Die Rückfallquote bei Tätern, die sich mit ihrer Tat beschäftigen, ist signifikant geringer. Deshalb versuchen wir, die Täter dazu zu bringen.

Und wie bringen Sie den Spielern bei, gewaltlos zu handeln?
Im theoretischen Teil am Vormittag ist es wichtig, nicht zu sehr von oben herab zu dozieren. Die Stärken des Spielers sind ein wichtiger Hebel. Ihm klar werden lassen: Gewalt schadet nicht nur dir und anderen, es bringt dich auch von deinem Spiel ab. In der Gruppe werden dabei Situationen durchgegangen, die heikel sind. Wie verhalte ich mich, wenn ich eine Schiedsrichterentscheidung ungerecht finde? Was tue ich, wenn der Gegner übermäßig hart spielt? Oder wenn er mich beleidigt? Wir haben gute Pädagogen in unserem Team. Sie sind geübt darin, die Spieler dahin zu führen, Selbstkritik zu üben. Es ist immer besser, wenn ein Spieler sich selbst vornimmt, etwas an seinem Verhalten zu ändern.

Und danach geht es ab auf den Platz?
Ja. Dort sollen sich die Spieler in einem langen Trainingsspiel mit mehreren Durchgängen bewähren. Sie sollen ganz praktisch die zuvor erarbeiteten Lösungen umsetzen. Damit ihr inneres Wutfass nicht überläuft, geben wir ihnen kreative Lösungen an die Hand. Der Gegner beleidigt mich als „Dreckschwein“? Kann ich kontern: „Stimmt, ist matschig heute.“ Der Gegenspieler sagt mir, ich könne kein Fußball spielen? Gut, beim nächsten gewonnenen Zweikampf grinse ich mir eins. So verschiebt sich der Fokus, und die Spieler können sich innerlich entlasten. Das ist Schlagfertigkeit im positiven Sinne. Eine gute Handlungsalternative.
Die Gruppe könnte sich vor dem Trainingsspiel absprechen und ganz ruhig kicken?…
So leicht machen wir es den Spielern nicht (lacht). Es ist immer ein von uns engagierter Provokateur dabei. Ein technisch guter, schneller Fußballer. Vorher erhält er ein DIN-A4-Blatt mit passenden Provokationen. Von Durchgang zu Durchgang dreht dieser Spieler an der Eskalationsspirale. Durch Sprüche, durch Härte. Es wird niemand verletzt. Aber es ist Druck da. Seine Anwesenheit ist deutlich zu spüren. Auch, weil kaum korrekte Schiedsrichterentscheidungen gefällt werden.

Trotzdem: Die Spieler müssen sich doch nur zusammenreißen.
In der Theorie ja. In der Praxis ist das schwierig. Von Durchgang zu Durchgang wird es hitziger. Einige schaffen es, vollbringen die Anpassungsleistung. Das ist wirklich eine große Leistung, von der sie später enorm profitieren können. Andere packen es nicht. Sie vergessen alles, was sie sich vorgenommen haben. Unser Provokateur hat schon für einige Rote Karten gesorgt.

Wie sehen Sie die Rolle der Trainer?
Geht es heiß her, sind diese ja nicht immer ganz unbeteiligt. Die Trainer holen wir auf verschiedenen Wegen mit ins Boot. Beispielsweise können sie in der Trainerfortbildung am Modul „Deeskalierendes Coaching am Spielfeldrand“ teilnehmen. Beim Spielabbruch-Coaching nehmen wir auch ihr Verhalten unter die Lupe. Trainer haben eine enorme Multiplikationswirkung. Während des Wettkampfs verhalten sich einige Trainer leider völlig unangemessen. Sie glauben, sie könnten durch einen Titel im Amateurfußball oder durch einen Sieg im Lokalderby Unsterblichkeit erlangen. Manche picken sich gezielt Spieler raus, die sie durch Akteure aus ihrem Team provozieren lassen. Das finde ich schlimm, das hat nichts mehr mit Fußball zu tun. Als ich selbst noch eine ETV-Jugendmannschaft trainierte, habe ich meinen Jungs vor den Eimsbütteler Derbys gegen den HEBC immer gesagt: Jungs, das ist hier kein Stadtteilguerillakrieg! Es geht nur um Fußball! So ein Spiel ist schon wochenlang vorher in der Schule ein Riesenthema, darauf muss ein Trainer eingehen.

Und die Schiris? Können Sie etwas tun, wenn Ihnen ein Spiel zu entgleiten droht?
Wichtig ist eine klare Linie zu Beginn des Spiels. Wurde diese versäumt, ist das schwer aufzuholen. Wird es hitziger, rate ich immer dazu, mehr abzupfeifen. Spielpausen sorgen für Beruhigung. Mit Trainern und Kapitänen sprechen kann ebenfalls hilfreich sein. Manche Schiedsrichter kompensieren in solchen Situationen ihre Unsicherheit durch Unnahbarkeit. Das wirkt arrogant und überheblich. Rivalisierende Mannschaften erklären den Schiri so schnell zum gemeinsamen Feind.

Spielt da auch das Alter eine Rolle?

Gerade für junge Schiedsrichter ist es schwierig, anders zu handeln. Ein 14- bis 18-Jähriger ist nicht immer sicher in seinem Auftreten und allen Entscheidungen. Mentale Schulung und Konfliktschulung für die Schiedsrichter ist ein Thema, das bei uns auf der Agenda steht. Die Schiedsrichterbeobachter sind oft nicht ganz ehrlich bei der Aufarbeitung der Partie mit ihren Schiedsrichtern. Sie haben Angst, ihre Kritik führt dazu, dass der Schiedsrichter die Pfeife an den Nagel hängt. Dabei dürfen Schiedsrichter kritisiert werden. Gleichwohl sind sie zarte Pflänzchen. Wir sollten sie hegen und pflegen, damit sie gut gedeihen.

Immer wieder laut geworden ist der Ruf nach härteren Strafen für Gewalttäter.
Ich halte das für Humbug. Strafe muss sein. Die fairen Sportler müssen geschützt werden, beim Fußball eben durch einen Entzug der Spielerlaubnis für einen Gewalttäter. Doch die Höchststrafen sind aus meiner Sicht absolut ausreichend. Mein Credo lautet: weniger Sanktion, mehr Konfrontation.

Eine lebenslange Sperre für jeden Gewalttäter hätte aus Ihrer Sicht keine abschreckende Wirkung?
Wer das glaubt, lebt in einer schönen Traumwelt. In manchen Staaten bedeutet eine lebenslange Haftstrafe tatsächlich eine lebenslange Haftstrafe. Nach dieser Logik dürfte es dort keine Mörder geben. Dem ist aber nicht so. Die Gewalt auf dem Fußballplatz würde nicht einfach so verschwinden.

Und was ist mit der Perspektive der Opfer? Steht deren Bedürfnis nach Bestrafung für den Gewalttäter nicht im Widerspruch zu Ihrem Credo?
Nein. Dem übel zugerichteten Opfer würde ich immer sagen: Der Täter hat durch unseren Weg, die Kombination aus Sanktion und Konfrontation, in der Regel viel mehr gelernt. Er musste sich mit seinem falschen Verhalten konfrontieren, sich seine eigenen Fehler eingestehen und ist nun dabei, sich zu verändern. Er produziert weniger oder – besser noch – keine Opfer mehr. Das ist besser als eine noch längere Sperre, weil es die Sicherheit des Opfers und aller Fußballer erhöht. Wir arbeiten zudem an der Idee eines Täter-Opfer-Ausgleichs in schweren Fällen. Das überschneidet sich aber mit dem strafrechtlichen Bereich. Die Idee befindet sich daher noch im Anfangsstadium.

Von Mirko Schneider

Dieser Artikel erschien am 4. Januar 2020 im Hamburger Abendblatt © Hamburger Abendblatt

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