Sexualdelikte gegen Kinder: „Dunkelziffer ist riesig“

Frankfurt, 9.2.2018 – Julia von Weiler hat alarmierende Zahlen mitgebracht. Über ihr Thema, sexualisierte Gewalt gegen Kinder, berichtete die Psychologin sonst auf der Bundespressekonferenz oder als TV-Gast von Sandra Maischberger und Markus Lanz. Heute sitzt Julia von Weiler im DFB-Tagungsraum 4 in Frankfurt und vor ihr etwa 40 sehr verantwortliche Menschen aus den Landesverbänden, denen sie nun also versucht zu erklären, um was es wirklich beim Cybermobbing geht und welche neuen Gefahren auch für den kleinen Verein in ländlicher Region binnen weniger Jahre entstanden sind. Anlass ist die 3. Fachtagung des DFB zum Thema Kinderschutz.

Sonst sind Journalisten oder Lehrer ihr Publikum, heute sind es die haupt- und ehrenamtlich für das Thema Kinderschutz zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landesverbände aus Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und anderswo, die ihr aufmerksam zuhören.

Es sind Zahlen, die einem das Fürchten lehren. Auch Zahlen, wie Julia von Weiler erklärt, die wir alle eigentlich gar nicht hören wollen, weil die Vorstellung so belastend ist. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik werden mehr als 14.000 Kinder in Deutschland jährlich Opfer eines sexuellen Missbrauchs. Einer Studie in den USA zufolge sagen 13 Prozent der Befragten zwischen 10 bis 17 Jahren, sie seien schon online sexuell belästigt worden. „In Deutschland“, berichtet von Weiler, „sagt jeder fünfte Jugendliche, dass über ihn oder sie schon mal beleidigende oder falsche Sachen im Netz gestanden haben.Die Dunkelziffer bei Sexualdelikten gegen Kinder sei riesig.“

Der Vortrag der Geschäftsführerin von „Innocence in Danger“ ist Teil einer klaren, mit Nachdruck forcierten DFB-Initiative. Dr. Stephan Osnabrügge sagt: „Wir wollen wachsam sein“. Osnabrügge ist Schatzmeister des Verbandes und unterstützt als Kinderschutzbeauftragter seit Jahren, dass der Fußball sich für die Prävention sexualisierter Gewalt stark macht. „Hier als Verein aktiv zu werden, ist eben nicht ein Anzeichen, dass etwas passiert ist. Wir Fußballer müssen verstehen, dass Kinderschutz beim guten Verein dazugehört. Kinderschutz ist ein Qualitätsmerkmal. Dazu gehören in einem Verein die Verankerung in der Satzung und ein Ansprechpartner.“ Beim DFB selbst schulte man zuletzt die Stützpunktkoordinatoren sowie die verantwortlichen Teammanagerinnen und Teammanager von der U 15 bis zur U21-Nationalmannschaft, und auch die Leiter und Betreuer der Fußball-Ferienfreizeiten der DFB-Stiftung Egidius Braun, an denen jeden Sommer rund 1000 Kinder und Jugendliche teilnehmen.

Das Thema beschäftigt Julia von Weiler nun schon fast drei Jahrzehnte lang. Während ihres Psychologie-Studiums an der New York University Anfang der neunziger Jahre setzte sie sich ehrenamtlich für missbrauchte Kinder ein. Später in Deutschland wurde sie pädagogische Fachkraft in der damals ersten Wohngruppe für missbrauchte Mädchen. Seit 2003 ist sie Geschäftsführerin der deutschen Sektion von „Innocence in Danger“, einem internationalen Bündnis zum Schutz von Kindern. Heute spricht sie über die besonderen Gefahren, die für Kinder über das Smartphone, auf Facebook und in Chatgruppen lauern könnten. Eine unübersichtliche Welt, die fast für alle Eltern noch viel fremder ist als für ihre Kinder.

„Schauen Ihre Kinder noch Fernsehen?“ fragt Julia von Weiler und fast alle berichten, dass längst Streaming-Dienste wie etwa Netflix, Youtube und Mediatheken bei Kindern und Jugendlichen das lineare Fernsehen abgelöst haben. Die mehrheitsfähige Abendunterhaltung über Generationen – ausradiert. Und selbst der Computer, Notebook und Tablet liegen auf dem Schrotthaufen der Geschichte. 81 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gehen ausschließlich über ihr Smartphone online.

Von Weiler: „Die digitalen Medien verändern unsere Lebenswelt nachhaltig“. Dabei seien Kinder „weder emotional noch kognitiv in der Lage, mit den Medien klarzukommen“. Doch laut einer EU-Studie klicken sich schon 42 Prozent der sechsjährigen Kinder durch das Internet. Das schafft Probleme, im schlimmsten Fall, weil Online-Communities aufgrund der Intimität des Kontakts eine abgeschlossene Welt darstellen und wenn sie von sexuellen Gewalttätern als Einfallstor genutzt werden, kommt es zum Missbrauch.

Ralf Slüter vom Deutschen Kinderschutzbund, der im Auftrag des DFB Schulungen durchführt, erklärt wie Täter oft vorgehen: „Ein Übergriff fällt nie vom Himmel, das ist oft ein Step-by-step-Prozess. Es fängt mit einer mangelnden Nähe-Distanz-Balance an, dass man also jemanden anfasst, obwohl der das nicht will. Es gibt sexuelle Anzüglichkeiten, es kommt zum Küssen. Und dann geht das in den schlimmsten Fällen weiter bis schließlich zur Vergewaltigung. Was strafrechtlich relevant ist, dafür wandert man selbstverständlich ins Gefängnis. Aber auch die Anfänge sind nicht okay, der Sportverein muss reagieren.“ Dabei warnt Slüter auch vor Hysterie und Panikmache. „Kinder müssen die Welt entdecken wollen. Man sollte sein Kind sicher nicht so verängstigen, dass es sich am Ende gar nicht mehr raustraut. Das Wesentliche scheint mir, dass Eltern ihre Kinder wahrnehmen. Man muss Veränderungen mitbekommen.“

Was ein Fußballverein gerade präventiv tun kann, erklärt die DFB-Broschüre Kinderschutz im Verein aus dem Jahr 2015. Johannes-Wilhelm Rörig, seit 2011 Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs, lobt den Handlungsleitfaden. „Die Broschüre ist sehr gut. Wirklich jeder Vereinsvorstand und viele Vereinsmitglieder sollten die Broschüre genau lesen.“ Rörigs klare Empfehlung lautet: „Passivität hilft nur den Tätern.“ Wer schnelle telefonische Hilfe sucht, findet die über die Hotline des Beauftragten (Tel.: 0800 22 55 530).
[dfb]

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